Vorläufige Haushaltsführung
Beschluss des Großen Senats des Bundesrechnungshofes vom 10. Oktober 2017
In der Sitzung am 10. Oktober 2017 hat der Große Senat seinen Beschluss vom 15. Dezember 2005 zur Frage, welche Beurteilungsmaßstäbe er bei der Prüfung von Maßnahmen im Rahmen der vorläufigen Haushaltsführung zugrunde legt, aktualisiert. Danach gelten für die vorläufige Haushaltsführung 2018 sowie künftige Fälle des Artikels 111 Grundgesetz folgende Hinweise:
I.
Artikel 111 Grundgesetz ermächtigt die Bundesregierung für den Fall, dass das Haushaltsgesetz nicht rechtzeitig verabschiedet worden ist, „bis zu seinem Inkrafttreten“ die notwendigen Ausgaben zu leisten. Das sogenannte Nothaushaltsrecht ersetzt in einem sachlich und zeitlich beschränkten Umfang die fehlenden haushaltsrechtlichen Ermächtigungen und stellt insoweit eine Einschränkung des parlamentarischen Budgetbewilligungsrechts dar.
Neben dem Wortlaut sind Sinn und Zweck der Regelung zu berücksichtigen, wonach der Regierung die Leistung von Ausgaben ermöglicht werden soll, die zur Weiterführung wichtiger und dringlicher Staatsgeschäfte unerlässlich sind. Bei den im Rahmen der vorläufigen Haushaltsführung zu treffenden haushaltswirksamen Entscheidungen muss die Regierung darauf achten, dass das Budgetrecht des Parlaments nicht in unverhältnismäßiger Weise präjudiziert wird.
Das parlamentarische Budgetbewilligungsrecht ist insbesondere in den Fällen betroffen, in denen die verspätete Verkündung des Haushaltsgesetzes auf Bundestagswahlen zurückzuführen ist und sich unter Berücksichtigung des Diskontinuitätsgrundsatzes der „neue“ parlamentarische Wille und damit ggf. verbundene Änderungen in den politischen Schwerpunktsetzungen erst nach der Konstituierung des neu gewählten Bundestages artikulieren.
II.
Nach Artikel 111 Absatz 1 Grundgesetz ist die Ermächtigung deshalb auf Ausgaben begrenzt, die „nötig“ sind. Die Leistung von Ausgaben ohne haushaltsgesetzliche Grundlage ist nur nötig, wenn
- der damit verfolgte Zweck überhaupt erreicht werden kann (Geeignetheit),
- die Ausgaben der Sache nach erforderlich sind (sachliche Erforderlichkeit); dies gilt insbesondere, wenn ohne ihre Leistung eine Pflichtverletzung begangen oder ein Schaden verursacht würde,
- die Ausgaben zeitlich nicht aufgeschoben werden können, ohne eine ordnungsgemäße Haushaltswirtschaft zu gefährden (zeitliche Erforderlichkeit).
III.
Bei den in Artikel 111 Absatz 1 Grundgesetz genannten Fallgruppen ist darüber hinaus insbesondere zu beachten:
1.
Die Bestimmung des Absatzes 1 Buchst. a) umfasst alle ordnungsgemäß errichteten Einrichtungen der Staatsverwaltung. Es darf jedoch nur die Ausstattung mit Personal und Gerät weitergeführt werden, die zur Erhaltung der Einrichtungen erforderlich ist.
2.
Bei den „Verpflichtungen“ im Sinne des Absatzes 1 Buchst. b) muss es sich um Verbindlichkeiten handeln, die vor Beginn der vorläufigen Haushaltsführung eingegangen wurden oder die kraft Gesetzes entstanden sind.
3.
Bauten, Beschaffungen und sonstige Leistungen oder Beihilfen für diese Zwecke (Zuwendungen) nach Absatz 1 Buchst. c) dürfen nur fortgesetzt bzw. weitergewährt werden, sofern durch den Haushaltsplan eines Vorjahres bereits Mittel bewilligt worden sind. Der geforderte Fortsetzungscharakter setzt begrifflich voraus, dass mit den jeweiligen Maßnahmen bereits begonnen worden ist. Die gewählte Formulierung lässt den Schluss zu, dass der Verwaltung in engen Grenzen eine Fortführung von Einzelvorhaben (einschließlich von Anschluss- und Aufstockungsvorhaben) und von Programmen über das Haushaltsjahr hinaus ermöglicht werden soll. Ein Rückgriff auf den Kontinuitätsaspekt setzt allerdings voraus, dass sich die Bewilligung während der vorläufigen Haushaltsführung inhaltlich im Rahmen der Zweckbestimmung und der Erläuterungen vorangegangener Haushalte bewegt. Entscheidend ist hierbei, dass sich neue Gestaltungsmöglichkeiten für die Verwaltung aus Artikel 111 Absatz 1 Grundgesetz nicht ableiten lassen. Insofern kommen haushaltswirksame Leistungsausweitungen etwa bei über Zuwendungen finanzierten Förderprogrammen (z. B. durch Änderung der Finanzierungsart oder ‑form bzw. Erweiterung des Zuwendungszwecks) nicht in Betracht. Falls weder die Zweckbestimmung noch die Erläuterungen die Vorhaben - z. B. bei Sammeltiteln oder sogenannten Globaltiteln - hinreichend konkret umschreiben, ist ggf. auf parlamentarische Beratungsunterlagen (z. B. Plenar- oder Ausschussprotokolle) zurückzugreifen. Ist diesen Unterlagen zu entnehmen, dass der alte Haushaltsgesetzgeber Vorbehalte gegen eine Programmfortführung hatte, hat die Verwaltung diesen Bedenken während der vorläufigen Haushaltsführung - ggf. durch eine Programmaussetzung bzw. -beendigung - grundsätzlich Rechnung zu tragen. Soweit die vorläufige Haushaltsführung auf Bundestagswahlen und eine sich daran anschließende neue Regierungsbildung zurückzuführen ist, sind Ausgaben im Sinne des Artikels 111 Absatz 1 Buchst. c) Grundgesetz, die dem erkennbaren oder mutmaßlichen Willen des neu gewählten Bundestags widersprächen (z. B. auf Grundlage von einschlägigen Festlegungen im Koalitionsvertrag), ebenfalls unzulässig. Im Übrigen steht das Instrument der Verpflichtungsermächtigung zur Verfügung, um eine kontinuierliche Programmfortführung zu ermöglichen. Nicht in Anspruch genommene Verpflichtungsermächtigungen gelten grundsätzlich bis zur Verkündung des nächsten Haushaltsgesetzes (§ 45 Absatz 1 Satz 2 BHO).
4.
Die Weitergewährung institutioneller Förderung ist zulässig. Sie umfasst jedoch nur die notwendige Ausstattung mit Personal und Gerät bestehender, schon bisher institutionell geförderter Einrichtungen. Für Projektförderungen gelten die Ausführungen zu Nummer 3.
IV.
Artikel 112 Grundgesetz ist auch im Falle der vorläufigen Haushaltsführung nach Artikel 111 Grundgesetz anwendbar. Dabei ist die Voraussetzung des „unvorhergesehenen und unabweisbaren Bedürfnisses“ mit dem gleichen strengen Maßstab zu prüfen wie beim Vollzug eines Haushaltsplanes.