Auftaktveranstaltung Föderales Forum
Datum
04.06.2019
Rede des Präsidenten des Bundesrechnungshofes, Kay Scheller
Sehr geehrte Damen und Herren,
Herr Staatssekretär Dr. Bösinger,
Ihnen, Herr Dr. Bösinger, und dem Bundesministerium der Finanzen danke ich für die Einladung zu dieser Auftaktveranstaltung für das neu eingerichtete Föderale Forum. Ich denke, es ist eine gute Idee, den Kontakt zwischen Politik und Wissenschaft zu föderalen Fragen zu vertiefen. Für die Handlungs- und Leistungsfähigkeit unseres Staates ist es von zentraler Bedeutung, dass der Föderalismus gut funktioniert. Gerade in letzter Zeit sind die Beziehungen zwischen Bund und Ländern neu justiert worden. Ob in die richtige Richtung, wird sicherlich noch heute Nachmittag intensiv erörtert werden.
Für einen leistungsfähigen Staat sind aber nicht nur Art und Umfang der Aufgabenverteilung zwischen den staatlichen Ebenen von Bedeutung. Ein weiterer Faktor sind die öffentlichen Haushalte. Sind sie tragfähig? Erlauben sie dem Staat auch in Zukunft handlungsfähig zu bleiben?
Dieser Frage möchte ich im Folgenden nachgehen. Welche Rolle spielt dabei die Schuldenbremse und welche finanzwirtschaftlichen Herausforderungen kommen auf den Bund zu? Dazu werfe ich auch einen Blick über die Grenzen auf die Umsetzung der europäischen Schuldenregeln.
Die Neuregelung der Artikel 109 und 115 Grundgesetz war das zentrale Ergebnis der Föderalismusreform II des Jahres 2009. Deshalb ist es nur konsequent, dass sich das Föderale Forum auch mit der Schuldenbremse befasst.
In Artikel 109 Grundgesetz wurde eine neue gemeinsame Schuldenregel für Bund und Länder aufgenommen. In Artikel 115 Grundgesetz gingen Konkretisierungen für den Bund ein. Zudem wurde in Artikel 143d Grundgesetz eine Übergangsregelung geschaffen.
Dazu kam
- die Errichtung eines Stabilitätsrats,
- die regelmäßige Haushaltsüberwachung von Bund und Ländern sowie
- ein Verfahren zur Vermeidung von Haushaltsnotlagen in den Gebietskörperschaften.
Wie man die Staatsverschuldung durch eine Schuldenregel möglichst effektiv begrenzen kann, beschäftigt auch den Bundesrechnungshof seit geraumer Zeit. Erstmals vor 20 Jahren haben wir die damalige investitionsbezogene Schuldenregel in Artikel 115 Grundgesetz kritisch bewertet. Seitdem ist das Thema „Staatsverschuldung“ und ihre Folgen fester Bestandteil unserer jährlichen Feststellungen zur finanzwirtschaftlichen Entwicklung des Bundes.
Wie steht es nun um die Schuldenbremse – acht Jahre nach ihrer Einführung? Hat sie sich bewährt? Hat sie die Erwartungen erfüllt?
Auf den ersten Blick sieht es ja ganz gut aus. Seit Einführung der Schuldenbremse im Jahr 2011 ist die Neuverschuldung rückläufig.
Und noch viel mehr:
- Die Haushaltsabschlüsse des Bundes in den Jahren 2015 bis 2018 weisen Überschüsse von zusammen 35 Mrd. Euro aus.
- Die Lage in den Ländern und Gemeinden ist vergleichbar positiv.
- Die staatliche Schuldenstandsquote unterschreitet in diesem Jahr voraussichtlich wieder die Maastricht-Grenze von 60 % des Bruttoinlandsprodukts - erstmals seit 2002.
Freuen wir uns aber nicht zu früh. Diese positive Entwicklung beruht im Wesentlichen auf dem Wirtschaftsaufschwung, der seit 2011 weitgehend ungebrochen ist. Sie ist nicht das Ergebnis einer nachhaltigen Konsolidierungspolitik. Konsolidiert wurde in den letzten Jahren gar nicht. Im Gegenteil – die Finanzpolitik des Bundes der vergangenen Jahre ist ungebremst expansiv. Es kam immer wieder etwas oben drauf, ohne dass etwas anderes weggenommen wurde.
Zum Wirtschaftsaufschwung hinzu kommen die historisch niedrigen Refinanzierungskosten. Die jährlichen Zinsausgaben des Bundes sind von ihrem Höchststand von 40 Mrd. Euro im Jahr 2008 auf unter 17 Mrd. Euro im Haushaltsabschluss 2018 gesunken.
Die Zinssteuerquote macht dies überdeutlich, also der Anteil der Steuereinnahmen, der für Zinsausgaben, für den Schuldendienst eingesetzt werden muss. Die Quote lag zur Mitte der Nullerjahre noch bei fast 20 % (2005), zu Beginn der Wirtschafts- und Finanzkrise bei 17 % (2008). Heute kratzt sie an der Fünf-Prozentmarke. Daran wird sich mittelfristig wohl nicht viel ändern. Die Europäische Zentralbank hat angekündigt, an der „Nullzinspolitik“ festhalten zu wollen. Die Zinsausgaben dürften also niedrig bleiben. Nach den Eckwerten zum neuen Finanzplan rechnet die Bundesregierung mit weiter günstigen Refinanzierungsbedingungen.
Nach unseren Berechnungen beläuft sich die planerische Entlastung für den Bund allein im Zeitraum 2014 bis 2021 auf fast 117 Mrd. Euro. Bei einer Rückschau auf die Jahre seit der Wirtschafts- und Finanzkrise (2008) erreichen die Zinsentlastungen noch größere Dimensionen: Die Deutsche Bundesbank hat hier ein Entlastungsvolumen von 155 Mrd. Euro allein für den Bund ermittelt. Für die öffentlichen Haushalte insgesamt liegt die kumulierte Ersparnis sogar bei 240 Mrd. Euro.
Auch die Steuereinnahmen legten seit Ende der Wirtschafts- und Finanzkrise kräftig zu. Der jährliche Anstieg lag im Zeitraum 2011 bis 2018 bei rund 12 Mrd. Euro – das ist ein Plus von fast 100 Mrd. Euro oder 43 %. Nach den Eckwerten zum neuen Finanzplan ist mit weiter steigenden Steuereinnahmen zu rechnen, wenn auch der Grad der Steigerung etwas zurückgeht. Das Ergebnis der Steuerschätzung vom 7. bis 9. Mai 2019 bestätigt diesen Trend.
Meine Damen und Herren,
vor dem Hintergrund dieser günstigen Rahmenbedingungen muss man nüchtern feststellen: Die Schuldenbremse kam seit ihrem Bestehen noch gar nicht richtig zum Einsatz. Ihre Bremskraft wurde noch nicht getestet. Die günstige konjunkturelle Entwicklung seit 2011 hat es der Bundesregierung leichtgemacht, die Schuldenbremse ohne Konsolidierungsmaßnahmen einzuhalten, anstrengungslos einzuhalten. Das Momentum war bislang auf ihrer Seite. Das könnte sich bald ändern.
Für die nähere Zukunft, für den Finanzplanungszeitraum, aber vor allem auf lange Sicht dürfte es schwieriger werden, den Bundeshaushalt finanziell auf Kurs zu halten. Dann muss die Schuldenbremse ihren ersten Belastungstest bestehen.
Die rekordverdächtigen Steueraufwüchse der letzten Jahre werden nicht mehr erreicht. Gleichwohl ist Deutschland noch weit von einer rezessiven Phase entfernt.
Die konjunkturelle Entwicklung ist das eine. Die öffentlichen Haushalte sind aber noch ganz anderen Herausforderungen ausgesetzt. Sie muss man entschlossen angehen. Werfen Sie mit mir einen Blick auf die Risikolandschaft, die sich vor dem Bundeshaushalt auftut, auf die potentiellen Ausgabentreiber der kommenden Jahre.
- a) Der demografische Wandel – die demografische Atempause dürfte in der Mitte der nächsten Dekade enden. Die Alterszugänge werden zunehmen, die Rentenausgaben dürften steigen. Rentenkassen und öffentliche Haushalte werden stärker belastet. Dazu kommt: die Erwerbsbevölkerung wird abnehmen, ein Dämpfer für das Wirtschaftswachstum.
Und dieser Trend könnte noch verschärft werden. Die große Mehrheit der sogenannten Babyboomer-Generation, also die heute 50 bis 64jährigen (Jahrgänge 1955 bis 1969), will möglichst früh in den Ruhestand. Aktuellen Studien zufolge wollen weniger als 10 % aller älteren Erwerbstätigen bis zum gesetzlichen Renteneintrittsalter von bald 67 Jahren arbeiten.
Der Druck auf die Rentenkassen wird also steigen. Dies lässt Schlimmes befürchten für die Höhe der diversen Bundeszuschüsse und -leistungen an die Gesetzliche Rentenversicherung. Bereits die bekannten Eckwerte für die neue Finanzplanung sehen im letzten Finanzplanungsjahr 2023 einen Anstieg der Rentenausgaben im Bundeshaushalt auf 114 Mrd. Euro vor. Dies wären über 16 % mehr als im Haushalt 2019 (98,0 Mrd. Euro).
Und die Politik verstärkt noch die Finanzierungsprobleme in der Rente durch die in der laufenden und letzten (18.) Wahlperiode beschlossenen Maßnahmen, wie die Mütterrente I und II sowie die Rente ab 63. Die Finanzierung der Mütterrente ist dabei besonders kritisch zu sehen. Sie wird als versicherungsfremde Leistung mit breiter Streuwirkung derzeit ganz überwiegend von der Rentenkasse getragen. Der Druck auf die Bundesregierung wird sicherlich wachsen, für eine systematisch saubere Finanzierung aus dem Bundeshaushalt zu sorgen. Auch wenn die Diskussion um die Grundrente noch offen ist, steht auch hier eines unverrückbar fest: Sie würde die Rentenfinanzen und damit den Bundeshaushalt zusätzlich belasten. Das gilt auch für die sogenannte doppelte Haltelinie ab Mitte der 2020er Jahre.
Es reicht nicht, diese Frage allein Expertenkommissionen zu überlassen. Die Politik muss Lösungen finden und auch über Möglichkeiten nachdenken, wie etwa die Aufhebung der Beitragsbemessungsgrenzen und die weitere Erhöhung des Renteneintrittsalters.
Und vergessen wir nicht die demografiebedingten Lasten im Bereich der Gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) und der Pflegeversicherung. Hier ist der Bundeshaushalt bislang in einem überschaubaren Umfang betroffen - mit einem jährlichen Bundeszuschuss von 14,5 Mrd. Euro an die GKV. Der Bundesrechnungshof hält es für unwahrscheinlich, dass dies so bleibt. Auch wird die Pflegeversicherung auf Dauer nicht gänzlich ohne Steuermittel auskommen.
b) Eine weitere Herausforderung ist der Erhaltungs- und Modernisierungsbedarf bei Verkehr, Digitalisierung und Umwelt.
Die Sanierung der zum Teil maroden Infrastruktur ist zwar zunehmend in den politischen Fokus gerückt. Im Bundeshaushalt stehen aber nach wie vor die konsumtiven und investiven Ausgaben in einem deutlichen Missverhältnis zueinander. Die Sozialausgaben dominieren die konsumtiven Ausgaben im Bundeshaushalt 2019. Sie liegen bei 179,5 Mrd. Euro. Das ist mehr als die Hälfte des Haushaltsvolumens. Bis 2023 sollen sie auf mehr als 198 Mrd. Euro wachsen. Dies würde einer Sozialausgabenquote von fast 53 % entsprechen. Berücksichtigt man die sich abzeichnende konjunkturelle Abkühlung, könnte bald die 200 Mrd. Grenze erreicht sein.
Sozialtransfers auf der Einnahmenseite – wie das Kindergeld – sind dabei noch nicht berücksichtigt.
Die Investitionen bleiben demgegenüber auf einem eher bescheidenen Wert unterhalb von 11 % des Haushaltsvolumens. Die große Aufgabe der nächsten Jahre besteht also darin, das finanzielle Engagement für den investiven Sektor zu steigern, ohne den Gesamthaushalt aus dem Ruder laufen zu lassen.
- c) Bei den Herausforderungen ist auch der Solidaritätszuschlag zu nennen. Rund 20 Mrd. Euro gehen hierdurch jährlich an den Bund. Die Grundlage für den Zuschlag fällt nun weg, der Solidarpakt II läuft Ende 2019 aus. Laut Koalitionsvertrag soll der Zuschlag nur teilweise abgebaut werden. Ob dieser Weg verfassungsrechtlich konform ist? Großes Fragezeichen.
Trifft man jetzt nicht ausreichend Vorsorge für einen kompletten Wegfall des Zuschlags, sehe ich erhebliche finanzwirtschaftliche Risiken. Hier sei an die Erfahrungen mit der Kernbrennstoffsteuer erinnert. Nachdem sie das Bundesverfassungsgericht für nichtig erklärt hatte, musste der Bund mehr als 7 Mrd. Euro an die betroffenen Energieunternehmen zurückzahlen. Beim Solidaritätszuschlag empfehle ich eine verfassungsgemäße Lösung – von Anfang an.
In meiner Funktion als Bundesbeauftragter für Wirtschaftlichkeit in der Verwaltung werde ich hierzu heute Nachmittag ein Gutachten veröffentlichen, das die Bundesregierung in dieser finanzwirtschaftlich relevanten Frage beraten soll.
- d) Weitere Herausforderungen und Risiken für die Einhaltung der Schuldenbremse im Bundeshaushalt:
Bundesleistungen für Kernaufgaben der Länder und Gemeinden. Sie steigen weiter – für Kitas, Schulen, kommunale Infrastruktur und den sozialen Wohnungsbau. Die finanzwirtschaftliche Verflechtung nimmt zu – mit all ihren Negativfolgen. Verwischung von Verantwortlichkeiten, Fehlanreize, Ineffizienzen, zweckfremder Einsatz von Mitteln – oder einfach nur Rücklagenbildung, ohne das Geld für die vorgesehenen Zwecke zeitnah einzusetzen. Aktuelles Beispiel: Hochschulpakt. - Die finanziellen Anstrengungen für die Aufnahme und Integration von Flüchtlingen. Sie sind immer noch erheblich und werden es auf absehbare Zeit bleiben. Denn die Flüchtlingsintegration ist Daueraufgabe, die die Haushalte von Bund, Ländern und Gemeinden noch Jahre fordern wird.
- Nicht zu vergessen die Erfüllung internationaler Finanzierungszusagen für Verteidigung oder wirtschaftliche Zusammenarbeit. Stichwort NATO- und ODA-Quoten. Bei der NATO-Quote strebt die Bundeskanzlerin für das Jahr 2024 einen Zielwert von 1,5 % des Bruttoinlandsprodukts (BIP) an. Allein dafür dürften auf Basis der Eckwerte im Jahr 2023 noch rund 10 Mrd. Euro fehlen. Wir reden bei 1,5 % des BIP übrigens von etwa 60 Mrd. Euro! Von den ursprünglich zugesagten 2,0 % des BIP (das wären 79 Mrd. Euro in 2023) ganz zu schweigen!
Man kann sich darüber streiten, ob es Sinn macht, verteidigungsstrategische Finanzbedarfe an einer Quote festzumachen, die sich am nominalen BIP orientiert. Anstatt aber einfach nur mehr Mittel bereitzustellen, sollten die gewaltigen Wirtschaftlichkeitspotenziale gehoben werden, die im Verteidigungsbereich schlummern. Eine stärkere internationale Zusammenarbeit bei der Entwicklung, Beschaffung und Erhaltung militärischer Ausrüstung könnte viel erreichen. Auch national besteht hier noch viel Luft nach oben, wie unsere Prüfungsergebnisse regelmäßig belegen (Korvetten, Orion).
- Last but not least werden auch die europäischen Verpflichtungen wachsen. Die Stichworte kennen Sie alle: Neuer EU-Finanzrahmen ab 2021 bis 2027, finanzielle Auswirkungen des Brexits, Instrumente zur Vermeidung künftiger Staatsschuldenkrisen, Eurozonenhaushalt, Europäische Bankenunion.
Dieser Blick auf die Risikolandschaft, vor der die Bundesfinanzen stehen, verrät:
Die Herausforderungen sind enorm.
Was bedeutet das für die Schuldenbremse?
Reaktion auf diese Herausforderungen – mit Blick auf Schuldenbremse
Einige Experten sagen, die Konsolidierungsaufgabe der Schuldenbremse sei erfüllt. Sie schlagen vor, die Schuldenbremse weiter zu entwickeln, indem man quasi ein „Fenster für Investitionen“ öffnet. Ein solches Investitionsfenster sei gerechtfertigt, denn das Zinsniveau bleibe ja auf absehbare Zeit niedrig.
Das würde einleuchten, wenn die Schuldenbremse beim Bund nicht nur Schulden, sondern auch Investitionen gebremst hätte. Das hat sie aber nach unseren Feststellungen nicht.
Die Investitionsquote hat sich nach Inkrafttreten der neuen Schuldenbremse auf Bundesebene im Jahr 2011 gegenüber der vorherigen Dekade sogar erhöht. Das gilt selbst dann, wenn man einen Sondereffekt aus den Investitionen herausrechnet, nämlich die Ausgaben für die Beteiligung Deutschlands am Europäischen Stabilitätsmechanismus (ESM) von 22 Mrd. Euro (9,8 %).
Von einem Bremseffekt gegenüber Investitionen ist hier nichts zu sehen.
Zusätzliche Kredite zur Finanzierung von Investitionen würden zudem Abgrenzungsprobleme mit sich bringen. Welche öffentlichen Investitionen sollen privilegiert sein? Dies war gerade eine Schwäche der alten bis 2010 geltenden Schuldenregel, die sich an den Bruttoinvestitionen orientierte.
Dem Hinweis auf ein weiterhin niedriges Zinsniveau ist entgegenzuhalten: Zwar können aufgenommene Kredite bei ihrer Tilgung aktuell und möglicherweise noch in den nächsten Jahren günstig anschlussfinanziert werden. Hohe Schuldenstände sind aber tickende Zeitbomben. Bei einer Normalisierung des Zinsniveaus werden aus „billigen“ Kredite „teure“ Kredite. Für eine finanzpolitische Korrektur wäre es dann zu spät.
Der normativen Öffnung von Kreditspielräumen für öffentliche Investitionen sollte man daher kritisch gegenüberstehen.
Meine Damen und Herren,
vor zusätzlichen Investitionsfenstern in der Schuldenbremse raten wir ab. Sie würden nur zu Folgeproblemen führen und die eigentliche Aufgabe von Finanzpolitik – nämlich Prioritäten zu setzen – vertagen.
Die Schuldenbremse bleibt eine wichtige Grundlage für tragfähige öffentliche Haushalte.
Deshalb sollte sich die Verfassung unverändert darauf beschränken,
- im Grundgesetz einen in Einnahmen und Ausgaben ausgeglichenen Haushalt zu fordern sowie
- eine Begrenzung der Neuverschuldung zu normieren, ohne bestimmte Ausgaben zu privilegieren.
Die Schuldenregel in ihrer geltenden Fassung bietet durch die Konjunkturkomponente genug Handlungsraum für eine flexible Finanzpolitik. Sie kann Kreditspielräume in konjunkturell schlechten Zeiten erweitern. Zudem besteht in Notsituationen (Naturkatastrophen, schwere Wirtschaftskrisen) die Möglichkeit, zusätzliche Kredite aufzunehmen.
Es bedarf keiner Anreize in Form zusätzlicher Kreditermächtigungen, um investive Zwecke auskömmlich abzudecken.
Demgegenüber wäre schon viel gewonnen, wenn die Politik darauf verzichten würde, die Schuldenbremse zu umgehen und damit zu schwächen.
Ich möchte in diesem Kontext zwei Entwicklungen nennen:
a) Inflationäre Errichtung von Sondervermögen
Wir beobachten mit Besorgnis die steigende Zahl von Sondervermögen. Sie beeinträchtigen wichtige Haushaltsgrundsätze wie die Jährlichkeit, Haushaltseinheit und Transparenz. Dies betrifft insbesondere die Sondervermögen Kinderbetreuungsausbau, Energieund Klimafonds, Kommunalinvestitionsförderungsfonds und Digitalfonds. Und im Haushaltsentwurf 2020 fällt ein weiteres neues Sondervermögen unter diese Rubrik: Das Sondervermögen zum „Ausbau ganztägiger Bildungs- und Betreuungsangebote für Kinder im Grundschulalter“.
Haushaltsermächtigungen in Sondervermögen zu verlagern, führt dazu, dass der Überblick über die jährliche Kreditaufnahme erschwert wird. Diese „Töpfchenwirtschaft“ spielt auf Zeit. Zwischen der haushaltsmäßigen Nettokreditaufnahme und der tatsächlichen – also kassenmäßigen - Belastung des Bundeshaushalts liegen oftmals mehrere Jahre. Haushaltsmittel des Bundes sollten grundsätzlich nicht in Nebenhaushalte, in Sondervermögen, ausgelagert werden. Darauf werden wir immer wieder hinweisen.
- b) Asyl-Rücklage aus Haushaltsüberschüssen
Auch den Umgang mit den Haushaltsüberschüssen der Jahre 2015 bis 2018 halten wir für problematisch. Die Überschüsse von immerhin rund 35 Mrd. Euro werden nicht zur Schuldentilgung eingesetzt, sondern in einer Rücklage, der sogenannten Asyl-Rücklage, geparkt. Die Rücklage ist allerdings nicht werthaltig. Mit ihr wird nichts anderes als eine zusätzliche Kreditermächtigung generiert - ohne Anrechnung auf das nach der Schuldenbremse zulässige strukturelle Defizit in den kommenden Haushalten.
Das Bundesministerium der Finanzen hatte im Herbst 2015 die erstmalige Bildung der Rücklage mit den ungewissen Belastungen begründet, die dem Bund aufgrund der Übernahme von Kosten der Aufnahme und Integration von Flüchtlingen drohten.
Eine solche unklare Finanzlage besteht nicht mehr. Die migrationsbedingten Belastungen sind im Finanzplan berücksichtigt. Vor diesem Hintergrund wäre es zielführend, auf das Instrument der Asyl-Rücklage zu verzichten und die Überschüsse zur Schuldentilgung einzusetzen.
Meine Damen und Herren,
kommt nun ab 2020 der Belastungstest?
Meine Antwort lautet: Ja – aber weniger für die Schuldenbremse als für den Haushaltsgesetzgeber:
- Der Verfassungsgesetzgeber hat 2009 ein zielführendes Regelgerüst für Bund und Länder im Grundgesetz vorgegeben. Er hat dabei in weiser Voraussicht die Begehrlichkeiten der Tagespolitik antizipiert.
- Es ist die Aufgabe des Parlaments, sich bei seinen Budgetentscheidungen in diesen Grenzen zu bewegen, um eine nachhaltige Finanzpolitik sicherzustellen.
- Die Schuldenbremse schafft notwendige Grenzen – gerade auch mit Blick auf künftige Generationen. Sie zwingt zur Debatte über Wichtiges und weniger Wichtiges.
- Bereinigung, strukturelle Konsolidierung ist angesagt. Eine kritische Bestandsaufnahme, Aufgabenkritik. Dies findet aber nach Einschätzung des Bundesrechnungshofes bislang kaum statt. Die Haushaltsentwicklung ist vielmehr durch eine expansive Linie gekennzeichnet mit weiteren Leistungsausweitungen.
- Auf Konsolidierungsmaßnahmen auf der Einnahmenseite wie den Einstieg in den Abbau der umfänglichen Steuersubventionen und der sonstigen Steuervergünstigungen wurde bisher verzichtet.
- Nach Auffassung des Bundesrechnungshofes wird es höchste Zeit, umzusteuern und die Chance für eine strukturelle Konsolidierung des Bundeshaushalts zu ergreifen: Notwendig wäre ein Mix aus zukunftsweisenden Investitionen, Konsolidierung und Schuldenabbau.
- Diesen Dreiklang haben auch die Rechnungshöfe von Bund und Ländern im Rahmen ihrer beiden Präsidentenkonferenzen des Jahres 2018 ausdrücklich betont („Weimarer Erklärung zum Schuldenabbau“; „Bonner Erklärung zur Nachhaltigkeit“).
Richten wir zum Schluss noch den Blick über unsere nationalen Grenzen hinaus.
Europa ist heute finanzwirtschaftlich besser aufgestellt als zu Beginn der globalen Finanz- und Wirtschaftskrise im Jahr 2008. Die Europäische Union (EU) mit den im Euroraum verbundenen Staaten wurde signifikant gestärkt durch
- die Weiterentwicklung der Fiskalregeln im Stabilitätsund Wachstumspakt (SWP),
- die Errichtung des Europäischen Stabilitätsmechanismus (ESM),
- den Fiskalvertrag und
- eine Bankenunion mit gemeinsamer Bankenaufsicht und Mechanismen für eine Bankenabwicklung.
Allerdings ist das reformierte Regelwerk gerade beim SWP immer umfangreicher und komplexer geworden. Diese Entwicklung ist der Einhaltung der Fiskalregeln und deren Überwachung eher abträglich, was sich an folgenden Aspekten ablesen lässt:
- Im Zeitraum 1999 bis 2015 haben die EU-Mitgliedstaaten das Defizitkriterium von 3 % des Bruttoinlandsprodukts in insgesamt 165 Fällen überschritten. In den zum Teil über viele Jahre laufenden Verfahren hat die EU-Kommission kein einziges Mal vorgeschlagen, eine finanzielle Sanktion zu verhängen.
- Die Schuldenstandsquoten sind zwar dank der insgesamt guten Konjunkturentwicklung in der EU und der niedrigen Refinzierungskosten bis Ende 2018 gesunken. Gleichwohl sind sie immer noch zu hoch:
Im Durchschnitt der EU-Mitglieder bzw. der Mitglieder des Euroraums überschreiten sie das Fiskalkriterium des EU-Vertrags von 60 % des Bruttoinlandsprodukts deutlich: 2018: 80,0 % (EU); sogar 85,3 % (Euroraum).
Der Europäische Rechnungshof hat darauf hingewiesen, dass die Kommission – was die Einhaltung der Fiskalregeln angeht – zwar über detaillierte Vorschriften und Leitlinien verfügt. Er kritisiert jedoch zu Recht, dass sie diese Vorschriften weder kohärent noch transparent anwendet.
Die Kommission sollte daher,
- die Einhaltung der Fiskalregeln zielgenauer bewerten sowie
- die Komplexität der Verfahren vereinfachen, damit Konsolidierungsziele stringent durchgesetzt werden können.
Die positive Entwicklung der Fiskalkriterien in Deutschland zeigt, dass wirtschaftliche Stärke und stabile öffentliche Haushalte keinen Gegensatz bilden, sondern sich gegenseitig befruchten können. Die Bundesregierung sollte diesen Zusammenhang bei der Weiterentwicklung des europäischen Regelwerks im Auge behalten. Das Reglement sollte nicht zugunsten zusätzlicher Verschuldungsräume eingeschränkt werden.
Nationale Schuldenbremse und europäischen Stabilitätsregeln tragen dazu bei, nachhaltige Finanzen zu fördern, um damit mittel- und langfristig handlungsfähig zu bleiben. Hierzu gehören weitgehend ausgeglichene Haushalte und der Abbau der in vielen EU-Ländern noch bestehenden zu hohen Staatsverschuldung.
National muss der Bund die Stabilitätsziele im Zusammenwirken mit den Ländern mit Nachdruck verfolgen.
Die Schuldenbremse liefert hierzu eine tragfähige normative Basis. Öffnungsklauseln zugunsten einer Kreditfinanzierung von öffentlichen Investitionen gehören nicht in das Grundgesetz.
Die Entscheidung über die Ausgestaltung des jährlichen Haushalts obliegt vielmehr dem demokratisch gewählten Haushaltsgesetzgeber. Er hat dabei die durchaus flexiblen Vorgaben des Verfassungsgesetzgebers zur zulässigen Nettokreditaufnahme zu beachten.
Die Zeit der anstrengungslosen Konsolidierung neigt sich dem Ende zu. Die Schuldenbremse zwingt zu nachhaltigen Haushaltsentscheidungen. Dazu wird die Finanzpolitik ihre derzeitige expansive Linie verlassen müssen.
Dies bedeutet kein Spardiktat für alle Bereiche, sondern erfordert Mut, Prioritäten und Posterioritäten zu setzen bei der Verteilung der begrenzten Finanzressourcen. Altes über Bord, damit notwendiger Raum für Neues entsteht.
Das Regelwerk der Schuldenbremse kann dazu beitragen, die Finanzpolitik konsequent an den Chancen, aber auch an den Grenzen für ihr fiskalisches Handeln auszurichten. Dies wäre ein wichtiger Schritt, um die finanzwirtschaftlichen Herausforderungen des nächsten Jahrzehnts erfolgreich zu bestehen.
Vielen Dank!