Die Welt
Datum
03.11.2020
Präsident Scheller sprach im Interview über die Neuverschuldung des Bundes, den Bundeshaushalt 2021 und die Schuldenbremse.
WELT: Herr Scheller, wie besorgt sind Sie angesichts der Rekordschulden?
Kay Scheller: Offen gesagt, waren meine Sorgen schon mal kleiner. Deutschland befindet sich im Zangengriff wegbrechender Steuereinnahmen und rasch steigender Ausgaben. Durch die explodierende Neuverschuldung sehe ich mittlerweile die Tragfähigkeit der öffentlichen Finanzen in Gefahr.
WELT: Können wir uns die milliardenschweren Hilfen also gar nicht leisten, anders als Bundesfinanzminister Olaf Scholz immer sagt?
Scheller: Wir können und wir müssen uns die Hilfsprogramme zur Überwindung der Corona-Krise leisten, das ist unbestritten. Aber die Schulden des Bundes explodieren auch deshalb in dieser Größenordnung, weil im Haushalt schon heute Geld für Maßnahmen reserviert wird, die erst Jahre später durchgeführt werden.
WELT: Zum Beispiel?
Scheller: Im Haushalt 2020 fließen beispielsweise weitere 26 Milliarden Euro in den Energie- und Klimafonds, sie werden aber in diesem Jahr nicht gebraucht, sondern dort einfach geparkt. Oder schauen Sie sich die Rücklage in Höhe von 48 Milliarden Euro an. Diesen Puffer tastet Finanzminister Scholz auch im Haushaltsentwurf für das Jahr 2021 erneut nicht an. Die Dimension der Neuverschuldung ist es, die mich beunruhigt. Sie ist in dieser Höhe nicht notwendig.
WELT: Deutschland steht aber trotz Rekordschulden im internationalen Vergleich immer noch gut da.
Scheller: Richtig, aber wir wissen nicht, was noch kommt, was der Bundeshaushalt noch leisten muss. Die Corona-Krise ist ganz offensichtlich noch nicht überwunden. Und danach warten weitere finanzielle Herausforderungen wie die Alterung der Gesellschaft mit ihren Auswirkungen auf alle Sozialkassen– von der Renten-, über die Pflege- bis zu den Krankenkassen, die Infrastruktur – analog und digital – oder der Klimawandel. Ich will die Dimension noch einmal deutlich machen: Erstens: Der Schuldenstand, den die Bundesrepublik in den vergangenen 70 Jahre aufgebaut hat, wird dieses und nächstes Jahr mit einem Schlag um 30 Prozent erhöht. Zweitens: In 2020 und 2021, also in diesen zwei Jahren, will der Bund mehr neue Schulden machen als in den 20 Jahren davor.
WELT: Durch die Finanzkrise 2008/2009 stieg die Schuldenquote ebenfalls auf mehr als 70 Prozent. Sie sank dank des sich anschließenden Wirtschaftswachstums wieder unter 60 Prozent.
Scheller: Es sollte sich niemand der Illusion hingeben, dass dies erneut so einfach gelingt. Wir sprechen nicht nur von einer anderen Größenordnung der Neuverschuldung. Der Bund profitierte damals vor allem von einer anstrengungslosen Konsolidierung: die Arbeitslosenzahlen und damit die Sozialausgaben sanken stetig, gleichzeitig stiegen die Steuereinnahmen. Jetzt ist es genau umgekehrt. Auch die immer niedrigeren Zinsen an den Kapitalmärkten kamen dem Bund zugute. Diesen Spielraum gibt es nicht mehr, noch niedriger können die Zinsausgaben kaum fallen. Ich halte es für riskant, dass die Bundesregierung allein auf einen Wirtschaftsaufschwung setzt. Eine erneute anstrengungslose Haushaltskonsolidierung, also das Herauswachsen aus der Krise Dank günstiger Umstände, könnte dieses Mal misslingen.
WELT: Was schlagen Sie stattdessen vor?
Scheller: Der Bund muss sowohl an die Einnahmen als auch an die Ausgaben ran. Durch Umsatzsteuerbetrug beispielsweise entgehen dem Staat jährlich viele Milliarden Euro. Dagegen endlich mit neuen, digitalen Mitteln vorzugehen, brächte viel Geld in die Haushaltskasse.
WELT: Das dürfte kaum von heute auf morgen gelingen.
Scheller: Umso wichtiger ist es, dass der Bund eine Konsolidierung jetzt endlich angeht. Der Bundesrechnungshof fordert dies seit Jahren. Viele Steuervergünstigungen gehören auf den Prüfstand. Ein Beispiel: Dass Diesel an der Tankstelle immer noch geringer besteuert wird als Benzin, ist nicht nachvollziehbar. Schon gar nicht mit Blick auf den Klimaschutz. Das Dieselprivileg ist aus der Zeit gefallen und gehört abgeschafft. Auch an Handwerkerleistungen, die teilweise von der Steuer abgesetzt werden können, sollte man ran. Generell müssen alle Steuersubventionen zeitlich begrenzt und regelmäßig überprüft werden.
WELT: Und welche Ausgaben hält der Bundesrechnungshof für überflüssig?
Scheller: Gerade im Sozialbereich ist vieles zementiert. Es sind daher politische Entscheidungen notwendig. Ein Ansatz wäre, staatliche Transfers stärker auf die Bürgerinnen und Bürger zu konzentrieren, die sie nötig haben und wirklich brauchen. Wir müssen möglichst schnell wieder da hin, dass die Ausgaben die Einnahmen nicht wesentlich überschreiten und die Schuldenbremse eingehalten wird.
WELT: Sie hatten bereits im Sommer wegen des zweiten Nachtragshaushalts Verfassungsbedenken wegen der nochmaligen Aussetzung der Schuldenbremse angemeldet.
Scheller: Die zusätzlichen Schulden in Höhe von mehr als 60 Milliarden Euro wären schlicht nicht notwendig gewesen. Der Bund verfügt über ausreichend Reserven, die er für die Notsituation hätte einsetzen können. Zudem wurden nicht nur Ausgaben überveranschlagt, sondern unnötigerweise auf Einnahmen verzichtet. Die Senkung der Mehrwertsteuer für ein halbes Jahr hat wie von uns damals schon vermutet, nicht zum versprochenen Wumms beigetragen. Die 20 Milliarden Euro fehlen jetzt.
WELT: 2021 soll die Schuldenbremse zum dritten Mal ausgesetzt werden. Geschieht auch das gegen den Rat des Bundesrechnungshofs?
Scheller: Die erneute Feststellung einer außergewöhnlichen Notsituation ist kaum zu vermeiden. Aber die Dimension der geplanten Neuverschuldung ist mit knapp 100 Milliarden Euro noch einmal eine andere als die gut 60 Milliarden Euro des zweiten Nachtragshaushalts. Hier erkenne ich kein Bemühen, die Neuverschuldung auf die Notlage zu begrenzen. Das ist so nicht vom Grundgesetz gedeckt. Schließlich lässt sich noch nicht sagen, was da im nächsten Jahr noch auf uns zukommt. Die Pandemie entwickelt sich gerade sehr dynamisch.
WELT: Ist die Schuldenbremse noch zu retten?
Scheller: Retten? Die Schuldenbremse hat gerade ihre Bewährungsprobe bestanden. Dank der Konjunkturkomponente und der Ausnahmeregel für Notsituationen stand sie den schnellen Hilfen nicht im Weg. Und zuvor hatte sie dafür gesorgt, dass der Bund seit 2014 keine zusätzlichen Schulden mehr aufgebaut hat. Erst diese Wirkung in guten Zeiten brachte uns in die Situation, in der Notlage so schnell handeln zu können.
WELT: Aber die Regel engt gerade mit Blick auf die kommenden Jahre den Handlungsspielraum ein.
Scheller: Das sehe ich genau umgekehrt: Die Schuldenbremse sorgt gerade dafür, dass künftige Generationen überhaupt noch einen Entscheidungsspielraum haben und ihr Weg nicht durch einen gewaltigen, von uns verursachten Schuldenberg verbaut ist. Sie garantiert Stabilität.
WELT: So lange die Zinsen so niedrig sind, stellt der Schuldenberg keine Belastung für den Bundeshaushalt dar.
Scheller: Die Zinsen mögen morgen und auch übermorgen noch so niedrig sein. Aber sind sie es auch überübermorgen? Viele Ökonomen sind sich einig: Die Frage ist nicht, ob die Zinsen wieder ansteigen, sondern wann. Und wenn das passiert, sprechen wir sofort über eine ganz andere Zinsbelastung für den Bundeshaushalt. Ich halte es für sehr riskant, auf ein dauerhaft niedriges Zinsniveau zu setzen.
WELT: Aber verhindert die Schuldenbremse nicht dringend benötigte Investitionen in eine moderne Infrastruktur?
Scheller: Nein! Es kann eben nicht alles gleichzeitig finanziert werden. Politiker kommen nicht umhin, Prioritäten zu setzen, damit der Staat handlungsfähig bleibt. Das ist ihre Aufgabe. Ich weiß, dass das schwer fällt: Jeder Politiker ist ausgabengetrieben, er will schließlich etwas erreichen und möglichst alles gleichzeitig finanzieren. Doch genau deshalb steht im Grundgesetz die Schuldenbremse.
WELT: Worin sehen Sie im Haushaltsplan das größte Risiko?
Scheller: Das größte Risiko ist eine Lücke von 130 Milliarden Euro für die Jahre 2022 bis 2024. Das sind Kredite, Rücklagen und weiterer Handlungsbedarf, für die aus heutiger Sicht neue Schulden gemacht werden müssen – kein seriöses Haushalten. Diese Lücke wird die nächste Bundesregierung schließen müssen. Ich sehe noch keinen Plan, wie das gelingen kann. Sich allein auf Wirtschaftswachstum, steigende Steuereinnahmen und sinkende Sozialausgaben zu verlassen, wird nicht reichen. Die Konsolidierung des Haushalts nach der Krise wird schmerzhaft werden. An Ausgabenkürzungen, Abbau von Steuersubventionen und vielleicht auch Steuererhöhungen geht aus meiner Sicht kein Weg vorbei, wollen wir die Handlungsfähigkeit der öffentlichen Haushalte und damit die Stabilität des Landes nicht auf Dauer gefährden.