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Handelsblatt

Datum 06.11.2020

Präsident Scheller sprach mit dem Handelsblatt über die Haushaltspolitik des Bundes, seine Rekordneuverschuldung, die Bund-Länder-Finanzbeziehungen und Europa.

Herr Scheller, der Staat muss wegen der Coronakrise Rekordschulden machen. Bereitet Ihnen das Sorge?

Die Haushaltspolitik befindet sich in ihrer größten Bewährungsprobe seit der Wiedervereinigung und ich sehe die Tragfähigkeit des Bundeshaushalts in Gefahr. Die Dimension der Neuverschuldung ist auch nicht mit derjenigen nach der Finanzkrise vergleichbar. Allein durch die Bundeshaushalte 2020 und 2021 wird die in 70 Jahren aufgebaute Bundesschuld um mehr als 30 Prozent steigen. Das ist einmaliger Vorgang.

Ist das nicht übertrieben? Im internationalen Vergleich ist die Verschuldung Deutschlands doch niedrig, und die Zinsen sind auch gering. Warum soll der Bundeshaushalt da gleich aus der Bahn geraten?

Es mag sein, dass die Zinslast morgen und übermorgen niedrig ist. Aber was kommt danach? Klar ist: die Zinsen werden eben irgendwann wieder steigen. Und wenn sie das auch nur um einen Prozentpunkt tun, zahlt der Bund pro Jahr schnell wieder zusätzliche zehn Milliarden Euro an Zinsen. Das ist hoch riskant.

Nach der Finanzkrise gelang es doch auch, den Staatshaushalt zu schnell zu konsolidieren?

Stimmt, aber die die Umstände sind jetzt andere. Die Zinsen sind schon ganz unten angelangt, tiefer geht es nicht mehr. Anders als nach der Finanzkrise kann der Bund hier keinen Handlungsspielraum mehr gewinnen. Das gleiche gilt leider für den Arbeitsmarkt, der bis zur Pandemie gut verlaufen ist. Auch mit einem schnellen und stetigen Zuwachs der Steuereinnahmen wie in den Jahren nach der Finanzkrise können wir nicht rechnen.

Die Bundesregierung glaubt, wieder aus den Schulden rauszuwachsen zu können.

Wer sagt denn, dass die Wirtschaft wie nach der Finanzkrise nochmal zehn Jahre hintereinander wächst? Die Bundesregierung setzt allein auf das Prinzip Hoffnung, also auf Wachstum und steigende Steuereinnahmen. Das ist zu wenig.

Welches Zeugnis stellen Sie der Politik in der Coronakrise bislang aus?

Die Bundesregierung hat schnell und entschlossen auf die Krise reagiert. Die aufgelegten Hilfsprogramme zur Krisenbekämpfung sind notwendig. Sie müssen aber auf das für die Bekämpfung der Corona-Notlage Notwendige begrenzt sein, also notlagenindiziert. Über dieses Maß ist die Bundesregierung weit hinausgeschossen.

Inwiefern?

Sie hat nicht nur Schulden für die Bekämpfung der Krise aufgenommen, sondern auch, um etwa Wasserstoff oder Künstliche Intelligenz zu fördern, teilweise bis ins Jahr 2030. Das sind wichtige Felder, hat aber mit Krisenbekämpfung nichts zu tun. Die Bundesregierung hat im Windschatten von Corona riesige schuldenfinanzierte Nebenhaushalte aufgebaut. Und das alles, ohne die schon bestehende 48 Milliarden Euro schwere Rücklage einzusetzen...

Sie meinen die Flüchtlingsrücklage, die in den Vorjahren nicht angetastet werden musste...

Genau, die heißt jetzt „Allgemeine Rücklage“. Die spart der Bund für spätere Jahre, beschließt dafür aber jetzt eine immense Neuverschuldung. Mit dieser Politik bewegt sich die Bundesregierung am Rande der Verfassung. Der Notlagenbeschluss im zweiten Nachtragshaushalt in diesem Jahr wäre nicht notwendig gewesen, wenn die Bundesregierung die Rücklage genutzt und darauf verzichtet hätte, neue Puffer aufzubauen, insbesondere im Energie- und Klimafonds. Mit dieser Politik greift sie späteren Bundestagen vor, und das geht nicht. Gleichzeitig hinterlässt sie der nächsten Regierung große Haushaltslöcher.

Sie sprechen die große Finanzlücken ab 2022 an.

In den Jahren 2022 bis 2024 klafft eine Lücke von insgesamt 130 Milliarden Euro. Die Bundesregierung sagt in ihrer Finanzplanung aber nicht, wie sie die schließen will. Sie ist offenbar ratlos.

Wie lassen sich denn die Löcher schließen? Durch Steuererhöhungen?

Vielleicht wird die nächste Bundesregierung eher dazu gezwungen, die Steuern zu senken. Dass der Rest-Soli für Gutverdiener und Unternehmen beibehalten wird, beschäftigt das Bundesverfassungsgericht. Dort sind Klagen anhängig sind. Kippt die Regelung, fehlen dem Bund weitere 10 Milliarden Euro jährlich.

Die andere Alternative wäre, Ausgaben zu kürzen. Wo sehen Sie Spielräume?

Bei den vielen Steuervergünstigungen etwa. Warum gibt es bis heute das Diesel-Privileg an den Tankstellen? Offensichtlich klimaschädlich. Auch die Absetzbarkeit von Handwerkerleistungen gehört längst auf den Prüfstand. Dann gibt es diesen unglaublichen Wildwuchs von Ermäßigungen bei der Mehrwertsteuer. Und auch bei der Bekämpfung von Umsatzsteuerbetrug muss sich der Staat dringend schlagkräftiger aufstellen. Hier entgehen ihm Milliarden. Spielräume gibt es also ausreichend. Im Übrigen hat die Bundesregierung in den vergangenen Jahren nicht gespart, sondern die Ausgaben immer stärker ausgeweitet.

Wecken die gewaltigen Summen für die Krisenbekämpfung Begehrlichkeiten für neue Ausgaben abseits von Corona, nach dem Motto: Jetzt können wir uns alles leisten?

Ja, diese Tendenz sehen wir. Das würde die Tragfähigkeit des Bundeshaushalts noch weiter belasten und muss daher unbedingt vermieden werden. Angesichts der vielen Kostentreiber für den Bundeshaushalt – die Alterung der Gesellschaft, die Modernisierung der Infrastruktur, die Einhaltung internationaler Zusagen in der Verteidigungs- und Entwicklungspolitik oder die steigenden europäischen Verpflichtungen – ist die Politik umso mehr gefordert, zu priorisieren. Deshalb ist es gut, dass es die Schuldenbremse gibt.

Die Regel steht allerdings stark unter Beschuss. Nicht nur linke Ökonomen fordern, sie durch einen Investitionsfonds abseits des regulären Bundeshaushalts zu umgehen, damit der Staat mehr investieren kann.

Solche Neben- und Schattenhaushalte darf es nicht geben. Sie machen die Staatsfinanzen kaum noch durchschaubar und nehmen dem Parlament so Gestaltungs- und Lenkungskraft. Die Schuldenbremse schützt Handlungsspielräume, sie ist urdemokratisch, weil kommende Generationen selbstbestimmt haushalten sollen und Parlamente ihre Entscheidungshoheit- und Freiheit behalten. Und in der Krise hat sich die Schuldenbremse bewährt. Sie erlaubt, die zur Bekämpfung der Notlage erforderlichen Schulden zu machen.

Fürchten Sie, es kommt bei den Corona-Hilfen zu Fällen von krasser Steuerverschwendung?

Bei derart großen Programmen, die so schnell aufgelegt und durchgeführt werden, besteht immer die Gefahr, dass jemand etwas bekommt, das ihm nicht zusteht. Wir haben unsere Prüfungskapazitäten jetzt darauf ausgerichtet, genau das zu überprüfen. Für eine Bewertung ist es aber noch zu früh.

Aus Ihren bisherigen kleineren Gutachten schimmert schon eine gewisse Skepsis durch. So warnten Sie den Bund jüngst davor, der Bahn die während der Coronakrise gewährten zusätzlichen fünf Milliarden Euro auszuzahlen.

Hilfen sollen an Corona-Schäden ersetzen und nicht andere Defizite. Diesen Zusammenhang muss die Bahn nachweisen. Sie sollte jedenfalls kein Geld dafür erhalten, um Fehlentwicklungen in der Vergangenheit auszugleichen. Vor allem nicht für ihre weltweiten und bahnfremden Unternehmensaktivitäten, mit teilweise hohen Verlusten.

Wie bewerten Sie die neuen Nothilfen für Unternehmen für den Lockdown im November? Ist es ein Fehler, sie am Umsatz zu bemessen?

Ich finde die neuen Hilfen schlüssig. Wenn der Staat eine Teil-Schließung des öffentlichen Lebens anordnet, geht es in Ordnung, wenn er den betroffenen Branchen dafür 75 Prozent des Umsatzes erstattet. Kritisieren würde ich eher die sechsmonatige Mehrwertsteuersenkung. Sie hat wenig gebracht, war aber teuer. Ohne diese von Beginn an zweifelhafte Maßnahme hätte die Bundesregierung jetzt 20 Milliarden Euro mehr für ihre Krisenbekämpfung in der Kasse.

Sie waren vor Ihrem Wechsel zum Bundesrechnungshof Fraktionsdirektor der Union im Bundestag. Können Sie die Kritik nachvollziehen, der Bundestag werde in der Coronakrise nicht ausreichend an Entscheidungen beteiligt?

Für den Haushalt sehe ich das nicht. Alle haushaltswirksamen Entscheidungen sind im Bundestag getroffen worden. Andererseits haben sich Bund und Länder haben in der vergangenen Woche unter Berufung auf eine Notsituation in aller Eile freiheitseinschränkende Maßnahmen verständigt, die schmerzhaft, aber wohl notwendig waren. Ich habe viel Verständnis dafür, wenn der Bundestag bei so wichtigen Fragen seine frühzeitige Beteiligung einfordert. Das ist nicht immer geglückt. Und damit meine ich nicht nur die Corona-Maßnahmen.

Was monieren Sie konkret?

Die föderalen Finanzbeziehungen. Hier haben die Bundesregierung und die 16 Ministerpräsidenten Vieles unter sich ausgemacht. Der Bundestag wurde erst sehr spät beteiligt. Der Bund agiert sehr großzügig und finanziert seit Jahren immer mehr Aufgaben, für die Länder und Kommunen verantwortlich sind. Der Bund muss aufpassen, sich seinen eigenen finanziellen Handlungsspielraum nicht abzuschnüren.

In der Coronakrise hat der Bund auch große finanzielle Zugeständnisse an die EU gemacht. Besteht die Gefahr, dass Deutschland angesichts der hohen Schuldenstände anderer EU-Staaten zu sehr in Haftung genommen wird?

Die EU ist eine Schicksalsgemeinschaft. Deutschland braucht Europa, so wie Europa Deutschland braucht. Die Bundesrepublik hat viele Lasten übernommen und leistet damit einen wichtigen und notwendigen Beitrag für die Stabilität Europas. Eines darf dabei aber nicht aus dem Blick geraten: Ein tragfähiger Bundeshaushalt hat auch einen Wert für Europa. Denn nur ein starkes Deutschland kann Europa eine Stütze sein. Dies gilt gerade in Krisenzeiten.

Was passiert, wenn es zu einer dritten oder vierten Corona-Welle kommt? Wie lange können wir uns eine Krisenbekämpfung in dieser Form leisten?

Das ist eine Frage, die viele beschäftigt. Ich kann nur für den Bundesrechnungshof sprechen und sagen, wir machen viele Vorschläge, wie wir mit einer soliden Haushaltspolitik besser durch Krisen kommen. Aber klar ist: Auch die Bundesfinanzen sind endlich. Zudem lehrt uns die Krise: der Staat braucht schlagkräftige, robuste Strukturen. Das ist eine Daueraufgabe auf allen Ebenen.

Unter Ihrer Führung wirkte der Bundesrechnungshof zuletzt sehr angriffslustig. Sie haben Ex-Verteidigungsministerin Ursula von der Leyen, Verkehrsminister Andreas Scheuer oder Bildungsministerin Anja Karliczek mit Ihren Prüfungen hart angegangen, zu Fall gebracht haben Sie sie aber nicht. Hat Ihre Arbeit dennoch etwas bewirkt?

Der Bundesrechnungshof tritt nicht an, um über seine Prüfungsergebnisse Politiker zu stürzen. Wir beraten in der Sache und wollen durch Argumente überzeugen. Und ich ordne auch keine Prüfungen an, sondern das ergibt sich in den jeweiligen Prüfungsabteilungen. Wir sagen, was ist, damit Politik auf der Basis von Fakten Entscheidungen treffen kann. Diese Fakten haben andere geschaffen; wir sind immer nur die Boten.

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