Spiegel Online
Datum
16.07.2020
Interview des Präsidenten des Bundesrechnungshofes, Kay Scheller
SPIEGEL: Der Bund macht neue Schulden in dreistelliger Milliardenhöhe: Fühlen Sie sich von Regierung und Parlament da noch ernst genommen?
Scheller: Wir waren im Frühjahr in einer außergewöhnlichen Lage. Es mussten Hilfen zur Bewältigung der Krise finanziert und dafür Kredite aufgenommen und die Schuldengrenze überschritten werden. Verbunden mit dem Tilgungsplan nachhaltig, sachgerecht und leistbar. Das hat der Bundesrechnungshof im Bundestag begleitet und ich kann nicht sagen, dass wir uns dabei nicht ernst genommen gefühlt hätten.
SPIEGEL: Ende Juni kritisierte Ihr Haus in einer Stellungnahme aber einen überdimensionierten Haushalt. Trotzdem verabschiedete der Bundestag nur drei Tage später Dutzende weitere Milliarden Schulden - ohne nennenswert auf Ihre Bedenken einzugehen.
Scheller: Beim zweiten Nachtragshaushalt muss man tatsächlich fragen, ob weitere Schulden nötig waren. Es wurde erneut eine außergewöhnliche Notlage deklariert, doch die hat die Regierung selbst herbeigeführt. Denn das Geld ist da: die Rücklage von 48 Milliarden Euro bleibt unangetastet und weitere schuldenfinanzierte 26 Milliarden Euro werden im Energie- und Klimafonds geparkt. Für zukünftige Ausgaben, ohne Zusammenhang mit der Krise. Das ist keine Notsituation.
SPIEGEL: Wo ist dabei das Problem?
Scheller: Das entspricht nicht den Regeln des Grundgesetzes. Die Haushaltsgrundsätze Jährlichkeit, Klarheit und Wahrheit wurden nicht eingehalten. Man hat Mittel festgelegt, über die eigentlich der jeweils zuständige Bundestag in späteren Haushalten beschließen muss. Dafür eine angebliche Notlage festzustellen, verletzt aus meiner Sicht die Schuldenbremse des Grundgesetzes nach Artikel 115.
SPIEGEL: Die angesprochene Schuldenbremse erlaubt doch Ausnahmen. Und wann eine Notlage ist, kann das Parlament selbst feststellen.
Scheller: Auch das Parlament muss die Verfassung beachten. Die zusätzliche Verschuldung im 2. Nachtragshaushalt war objektiv nicht notwendig. Das sage ich vor allem deshalb, weil wir es in Zukunft mit vielen zusätzlichen und tatsächlich notwendigen Ausgaben zu tun haben werden. Denken Sie nur an die Kosten für Rente oder Pflege, die durch den Bundeshaushalt bezuschusst werden. Da die Rücklage unangetastet zu lassen, halte ich für nicht tolerabel.
SPIEGEL: Der Haushalt ist also verfassungswidrig?
Scheller: Das Grundgesetz ist aus unserer Sicht nicht eingehalten. Zur Feststellung der Verfassungswidrigkeit ist der Bundesrechnungshof nicht der richtige Ansprechpartner, sondern das Bundesverfassungsgericht.
SPIEGEL: Warum nimmt die Bundesregierung überhaupt weitere Schulden auf, ohne die Reserven anzutasten? Hat das mit der Bundestagswahl 2021 zu tun?
Scheller: Das müssen Sie die Bundesregierung fragen. Klar ist, dass sie sich finanzielle Spielräume für kommende Jahre verschafft, was so nicht vorgesehen ist.
SPIEGEL: Was ist denn so schlimm daran, Schulden zu machen? Die Zinsen sind zum Teil negativ und mit der Ausgabe von Bundesanleihen verdient der Staat sogar Geld…
Scheller: Wir brauchen einen funktionierenden Staat auch für die nächsten Generationen. Auch sie sollen selbstbestimmt gestalten können und dafür müssen Gläubiger und Finanzmärkte Vertrauen in die Finanzierung eines Staatssystems haben. Wenn die Tragfähigkeit der Staatsfinanzen gefährdet wird, engt das künftige Generationen ein. Stellen Sie sich vor, die Zinsen normalisieren sich, es gibt wieder höhere Zinsaufschläge und Deutschland muss einen großen Schuldenberg refinanzieren.
SPIEGEL: Droht das denn?
Scheller: Wir können die Corona-Ausgaben stemmen, weil wir in den vergangenen Jahren unseren Haushalt konsolidiert haben. Unsere Schuldenquote lag zuletzt bei unter 60 Prozent und damit weniger als halb so hoch wie in Italien. Doch jetzt bewegen wir uns wieder auf 80 Prozent zu und wenn das dauerhaft so bleibt, wird Kreditfinanzierung womöglich teurer. Bleiben wir beim Beispiel Italien: Das Land hat wegen seiner hohen Staatsverschuldung echte Probleme, neue Kredite aufzunehmen – und will deshalb nun eine europäische Lösung.
SPIEGEL: Finanzminister Olaf Scholz sagt aber, er werde nicht gegen die Krise ansparen.
Scheller: Das verlangt ja auch niemand! Viele der beschlossenen Programme sind sinnvoll, wie das Kurzarbeitergeld, Überbrückungshilfen oder Hilfen für Selbstständige. Zahlreiche Betriebe und Arbeitsplätze könnten so gerettet werden.
SPIEGEL: Aber die befristete Mehrwertsteuersenkung bemängelten Sie als „Gießkannenprinzip“.
Scheller: Instrumente müssen treffsicher und zielgerichtet sein und in dem Fall wissen wir nicht, ob die 20 Milliarden Euro Einnahmeverzicht tatsächlich konjunkturell nützen. Es profitieren auch die vielen Branchen, die wie Baumärkte, Discounter oder der Internethandel sehr gut durch die Pandemiezeit gekommen sind. Ein paar Cent Nachlass bei der Zahnpasta oder den Brötchen morgens beim Bäcker lösen keinen zusätzlichen Konsum aus. Nur bei größeren Anschaffungen kann die Senkung Wirkung entfalten.
SPIEGEL: Wäre denn eine Autokaufprämie sinnvoller gewesen?
Scheller: Nein, wir hatten ja schon mal eine E-Mobilitätsprämie, die wenig wirksam war.
SPIEGEL: Das heißt, es gibt gute und schlechte Schulden?
Scheller: Es gibt wirksame und wenig wirksame Programme.
SPIEGEL: Und bei der Wirksamkeit gilt der Staat ja nicht gerade als Vorbild. Die staatliche Förderbank KfW hatten Sie in der Vergangenheit bereits wegen hoher Kosten kritisiert.
Scheller: Sie benötigen Banken, um Kredite auszugeben. Wichtig ist, dass das Geld schnell fließt und an richtiger Stelle ankommt – ohne überhöhte Kosten. Das gilt auch für die Hilfen für Länder und Kommunen. Sie müssen schnell und zusätzlich wirken. Z. B. hat der Bund den Ländern Corona-Hilfen für den ÖPNV zur Verfügung gestellt. Aus früheren Prüfungen wissen wir aber, dass in den Ländern noch über vier Milliarden Euro aus Bundesmitteln liegen, die noch gar nicht für den ÖPNV eingesetzt wurden. Auch hier zeigt sich, das Geld ist da, kann aber nicht schnell genug in Projekte umgesetzt werden. Und wenn man sich schon verschuldet, muss man das doch zumindest sicherstellen.
SPIEGEL: Was kann man als Regierung dagegen tun?
Scheller: Sich kümmern, genauer kalkulieren und Zweck und Zeitraum für den Zugriff auf die Hilfen besser definieren sowie den Erfolg kontrollieren. In den Ländern ist das Interesse daran oft zu wenig ausgeprägt. Es ist ja nicht eigenes Geld, das ausgegeben wird. Deshalb sehen wir es auch kritisch, wenn der Bund jetzt einen noch größeren Anteil der Unterkunftskosten für Hartz-IV- und Hilfeempfänger übernehmen soll.
SPIEGEL: Die Länder haben dem Bund aber auch immer mehr Kompetenzen abgegeben.
Scheller: Ja, und deshalb wäre es sinnvoll, wenn die Steuereinnahmen direkt bei den Gebietskörperschaften ankommen würden, die das Geld brauchen. Vielleicht ist es Zeit für eine Neufestsetzung der Steuerverteilung zwischen Bund und Ländern.
SPIEGEL: Sie kritisieren, schreiben Berichte. Sie erleben wie beim Nachtragshaushalt aber auch, dass nicht drauf eingegangen wird. Wünschen Sie sich da mehr Macht?
Scheller: Uns ist wichtig, dass der Bund wirtschaftlich handelt und Regeln einhält - und dass unsere Berichte dazu beitragen. Aufbauend auf unseren Reformempfehlungen wird derzeit die Autobahn GmbH des Bundes eingerichtet. Unsere Prüfer entdeckten das Gerippe der „Gorch Fock“ in der Werft. Wir deckten rechtswidrige Auftragsvergaben im Verteidigungsministerium auf und verfassten einen aufklärenden Bericht zur PKW-Maut. Dabei helfen uns unsere starken Prüfungsrechte, wir dürfen überall reinschauen. Die Entscheidung über Veränderungen treffen aber Regierung und Parlament. Das ist auch gut so.
SPIEGEL: Aber ist es nicht traurig, dass es etwa bei der PKW-Maut einen parlamentarischen Untersuchungsausschuss braucht, um die Vergabe aufzuarbeiten?
Scheller: Es wäre natürlich erfreulicher, wenn das nicht passierte. Aber so ist nun mal nicht die Wirklichkeit. In dem Fall sind wir mit unseren Feststellungen und Empfehlungen ans Parlament herangetreten. Für uns ist aber auch klar: Wir sind die externe Finanzkontrolle, nicht Teil des politischen Prozesses. Wir müssen mit unseren Empfehlungen und Argumenten überzeugen.
SPIEGEL: Mit der BaFin steht eine andere Bundesaufsichtsbehörde wegen ihrer Rolle im Fall Wirecard in der Kritik. Können Sie als Prüfer des Bundes nachvollziehen, wie dort kontrolliert wurde?
Scheller: Es gibt in der Tat Zweifel, ob die BaFin hier wirksam und umfassend gearbeitet hat. Jahrelang wurden Hinweise gegeben, unter anderem durch journalistische Recherchen, und es stellt sich die Frage, ob die BaFin da ausreichend hingeschaut hat. Es gab Anlass, den Verdachtsmomenten bei Wirecard nachzugehen. Nun muss aufgeklärt werden, warum das offenbar nicht aufgegriffen wurde. Hier sind bedeutende Fragen unbeantwortet – und daher ist auch der Bundesrechnungshof gefordert. Es gibt offensichtlich Lücken im Aufsichtssystem.
SPIEGEL: Was heißt das konkret?
Scheller: Wir werden das System der Aufsicht - Struktur und Risikomanagement am Beispiel Wirecard - untersuchen und warum die BaFin offenbar die Anhaltspunkte nicht aufgegriffen hat. Wir werden dabei auch prüfen, wie das Bundesfinanzministerium und die BaFin mit den Vorwürfen falscher Bilanzen sowie mit den Berichten der Wirtschaftsprüfer umgegangen sind. Die Vorgänge müssen gewissenhaft aufgeklärt und Fehler gründlich analysiert werden. Als Voraussetzung für notwendige, treffsichere Reformen. Und das geht nicht von heute auf morgen.
SPIEGEL: Olaf Scholz verspricht Reformen, aber wieso hat nicht auch das Finanzministerium früher reagiert, wo doch Probleme bei der Aufsicht schon bereits vor mehr als zehn Jahren bei der IKB oder der HRE bekannt wurden?
Scheller: Wie tief die Kenntnisse des Bundesfinanzministeriums im Einzelnen waren oder sind, kann ich heute nicht beurteilen. Aber die grundsätzliche Problemstellung, dass Wirecard sowohl ein FinTech-Unternehmen als auch eine Bank ist, war allen bekannt. Hierauf hätte man das Aufsichtssystem ausrichten sollen und aus heutiger Sicht auch müssen. Wir wollen uns systemisch anschauen, wie man dem begegnet ist und ob vorwerfbare Versäumnisse bestehen. Das könnte auch das Parlament interessieren.
SPIEGEL: Können Sie denn BaFin-Chef Felix Hufeld verstehen, der behauptet, er habe im rechtlich möglichen Rahmen gehandelt?
Scheller: Das will ich nicht kommentieren, wir stehen erst am Anfang. Aber die BaFin hat ja auch Selbstkritik geübt. Der Vertrauensschaden ist enorm.